top of page
Elaiza Hartlieb_color change_bearbeitet-

Kapitän Goldzunge

Besonders eine Legende erzählt man sich oft. Sie handelt von einem Kapitän, dessen Stimme so schön war, dass er damit sogar Sirenen anlocken konnte. Sein Schiff - die Nachtgier - war überall gefürchtet und seine Mannschaft nannte man nur die Teufel der See.

Dieser Kapitän Goldzunge lockte die Sirenen an, bis sie schließlich mit ihm sangen und mehr und mehr Schiffe aus der Ferne und in ihr unweigerliches Verderben zogen.
Eines Tages verschwand er ganz plötzlich und ward seit dem nicht mehr gesehen. Doch noch immer singen Seeleute allerorts darüber und zahlreiche Mythen sammeln sich um ihn, den Kapitän mit der goldenen Zunge. Manche sagen, er habe die Rache der Meerjungfrauen erhalten, eine seltene Krankheit die ihm Kiemen wachsen ließ und an der er jämmerlich erstickte. Andere behaupten, er lebe noch immer, tief auf dem Meeresgrund in einem Schloss aus Korallen, von wo aus er Schiffe zum Kentern bringt und unvorstellbare Schätze anhäuft. 

Das Lied darüber, welches mit leichten Variationen an vielen Häfen gesungen wird – oder auch um Kinder davon abzuhalten zu tief ins Wasser zu laufen -  geht wie folgt:


Einst gab es nen Käp‘ten so rau wie die See

die Augen kalt wie der Mond

die Brust geschwellt,

sein Kommando laut gellt,

kein Leben wird jemals verschont.


Doch seine Stimme ward lieblich wie goldener Klang

sank in die Tiefe hinab

von dort kam der Tod,

lockt die Seemänner fort,

in ihr nasses Grab.


Yoho steht zusammen

Lauscht nicht den Maiden der See

Sie woll‘n euch verdammen

sagt euren Liebsten Adé


Doch die Macht des Meeres verlangt ihren Preis

Sie forderte ein seinen Thron

Für die goldene Zung‘,

büßt er seine Lung‘,

das war der Maiden Hohn.


Yoho steht zusammen

Folgt nicht den Maiden der See

Sie woll‘n euch verdammen

sagt euren Liebsten Adé

Flavor Text: Work
img006_edited_edited_edited.jpg

Paris, Abend des 3. März 1908

Sie lauscht den Klängen von Erik Satie aus dem leise knisternden Gramophone, während weißer Rauch sich träge in den wenigen Lichtstrahlen der dunkel verhangenen Bar schlängelt. Rotes, durchgewetztes Leder knarzt unter ihrem Gewicht, als sie sich vorbeugt, um ihre halb gerauchte Cigarette im klobig gläsernen Aschenbecher zu zerdrücken. "Un autre cabernet franc, mademoiselle la Droiturière?" Fragt der Kellner und sie runzelt die Stirn, plötzlich herausgerissen aus der Gedankenwelt ihrer Lektüre. Ein kurzer Blick auf ihr leeres Weinglas und den tiefroten Rest, der sich am Boden gesammelt hat. Gedankenverloren fährt ihr Daumen über den dunklen Lippenstiftabdruck am Rand.
"Euh, oui." Eine abweisende Geste der Hand. Dann senkt sie ihren Blick wieder zurück auf die Zeilen. Es ist Émile Boiracs L'Avenir des Sciences Psychiques, die Psychologie der Zukunft. Eingeschlagen in grauen Stoff. Nur all zu gerne würde sie dem Autoren einige Fragen über seine Theorie des sechsten Sinns stellen, über seinen Begriff des Clairvoyance und wie er jene Personen untersucht hatte,  die diese extra-sensorische Wahrnehmung aufwiesen - doch hat sie kaum Zeit, den weiten Weg nach Dijon zu reisen. Nicht jetzt. Nicht in den nächsten Wochen. Vielleicht nicht einmal in den nächsten Monaten. Ungehalten zieht sie eine der schmalen Cigarettes aus ihrem metallenen, Perlmutt besetzten Etui - ein Erbstück ihres Vaters - und klopft das flache Ende auf den runden Holztisch neben ihr. Ihr Weinglas ist noch immer leer und Rauchen macht ihr ohne das Trinken wenig Spaß. "Garcon!"
Der Kellner lässt nicht lange auf sich warten und bringt den roten Beerensaft. Sie nickt. Atmet tief durch und nimmt einen noch tieferen Schluck. Dann zieht sie ihre Taschenuhr hervor und wirft einen Blick darauf. Es ist Zeit. Als ihre braunen Augen unruhig zur Tür huschen, tritt ein Mann hinein. Beinahe unscheinbar wirkt er in seinem grauen Anzug und der Zeitung in der Hand. Er beugt sich zum Kellner und spricht. Unbewusst kauert sie sich zusammen im großen Ohrensessel, bis sie sich dessen bewusst wird und sich - etwas zu hastig - wieder gerade richtet. Der Mann dreht sich nun zu ihr. Entdeckt sie in ihrer kleinen, dunklen Ecke und tritt auf sie zu.
"Léontine la Droiturière?" Seine Stimme ist leise, beinahe sanft, doch sie hört den bestimmenden Unterton. Spürt den unmissverständlichen Blick der dunklen Augen, der sie durchbohrt.
Sie setzt zum Sprechen an, räuspert sich, nickt schließlich. Er mustert sie eine Sekunde zu lang, als würde er zögern, bevor er sich besinnt, dass es nicht seine Aufgabe ist eine Entscheidung zu treffen. Dann legt er die Zeitung in ihren Armen ab, dreht sich um und verlässt die Bar so schnell, wie er sie betreten hat.
Léontine schlägt Le Temps auf. Das Auto-Rennen von New York nach Paris; natürlich hat es eine Doppelseite. Seit beinahe einem Monat rasen sie nun um den Globus und sie würde gewiss nicht warten, bis sie in Paris angekommen sein würden. Sie blättert weiter. Überfliegt die nächsten Seiten, bis ihr das vertraute Zeichen ins Auge sticht. Sie runzelt die Stirn. Verfolgt mit dem Zeigefinger die betroffenen Zeilen auf dem weichen Papier, das unter ihren Fingern erwartungsvoll knistert. Dann findet sie es. Stutzt. Es braucht drei Versuche, bis das Streichholz endlich brennt und die Zigarette zwischen ihren Fingern glimmend zum Leben erwacht. Sie zieht einen tiefen, giftigen Zug in ihre Lungen, bevor sie ihn als dicken Schwall rauchigen Dunsts in den nun nur noch von Kerzen erleuchteten Raum entlässt. Gleich gefolgt von einem Schluck aus dem vollen Weinglas, den sie mit geschlossenen Augen die Kehle hinunter gleiten lässt. Tief atmet sie durch. Dann blickt sie erneut auf die Worte in ihrem Schoß.
"Merde...

Flavor Text: Work
L%C3%83%C2%B6wenzahn_5_bearbeitet-2_edited.jpg

Die Nacht

Der Tag war voller Erinnerungen. So hell und laut und hektisch. Doch dann kam die Nacht. Leise, still. Ein dunkler Schatten legte sich über die Stadt, während Laternen, Reklamen und Fenster ferner Räume sich bemühten ihn zu durchbrechen, wie ein Schiffsbug das Eis. Sie schienen ihn auseinander zu reißen, brachen ihn auf und ließen ihm nur die wenigen Ecken, denen sie keine Bedeutung beimaßen. Und doch, die Dunkelheit war überall. Man konnte sie ausdünnen, hinfort scheuchen, doch niemals gänzlich verjagen. Unaufhörlich viel sie vom Himmel herab, breitete sich aus, wie der Geruch von Schnee am ersten kalten Wintertag. Von weit, weit oben, aus der unendlichen Endlichkeit des Alls.
Und so wurde sie hier begrüßt, das mächtige Wesen; mit Lärm und Licht. Doch als Jäger war sie geduldig. Wie ein Tier, lauernd und ruhig, schlich sich immer näher heran, bis sie mit einem Male alles mit ihrem Griff umschlang. Wie dämpfender Nebel, sanft und behutsam, aber fest und unausweichlich. Das künstliche Licht stach sie, doch sie ertrug es. Denn sie wusste um ihre Macht. Schob die dicken, trägen Wolken beiseite und ließ das kleine Leben am Boden, mit einem Blick, hinauf in die Sterne fallen. Kalt und strahlend, ohne den blauen Schleier durchbrechen zu wollen. Schufen durch ihr Licht in so weiter Ferne, nur noch mehr Bewusstsein für die alles umfassende Finsternis. Ein Stück der Vergangenheit, schicksalsgeschwängert vom Menschengeist, zukunftstragend für manche. Sehnsuchtsfänger, Weggeleiter, Traumbewahrer. Die Nacht schloss sich um die Welt, wie Augen ihre Lider. Es war gefährlich. Gefürchtet. Wenn kaum mehr blieb, außer dem Geist, umhüllt von Nichts und Ferne. Wenn grell zu grau wurde, zum Dunkel, zum Selbst. Entblößt und verborgen zugleich. Kein Alltag zum Verstecken, kein Ablenken, kein Zwang. Nur der Geist und die ewig währende Frage des Seins.

Flavor Text: Work
bottom of page